Vespucci
Wir hatten nur ein Jahr das Glück Vespucci als Pachthengst züchterisch nutzen zu können. Der Hengst strotzte noch im hohen Alter vor Vitalität und Härte. Er war eine Persönlichkeit. Der etwas herbe Gesichtsausdruck mit den großen, lebhaften Augen zeigte eine Ähnlichkeit mit seinem Großvater Ramzes x. In unserer Herde befand sich leider nur eine Tochter dieses Hengstes: Laconda a. d. Lagune v. Marduc, die wir vorzugsweise mit Vollblütern anpaarten und die in schöner Regelmäßigkeit hervorragende Nachzucht brachte, so u. a. die auch in unserer Zucht stehenden Stuten La Gitana TN v. Zigeunerheld xx und La Vita TN v. Cavallieri xx. Die Krone ihrer Hengstnachzucht bildet unser Le Chevalier TN. In seiner vielseitigen Veranlagung war Vespucci ein typischer Ramzes x Nachfahre. Er ging erfolgreich Dressur und Springen bis Klasse M. Den züchterischen Weg Vespuccis kann man leider nur als unglücklich bezeichnen. Durch den viel zu häufigen Wechsel der Deckstellen blieb sein Einsatz so gut wie chancenlos, was aus heutiger Sicht mehr als bedauerlich ist.
Den Schimmel Vespucci könnte man als Outcross-Hengst der Trakehnerzucht ansehen. Über seinen Vater Condus entstammt er der Linie des angloarabischen Jahrhunderthengstes Ramzes x, der wie kein anderer die Sportpferdezuchten der Nachkriegszeit geprägt hat. Condus war der einzige gekörte Trakehnerhengst von Ramzes x und wurde viel zu früh in die USA abgegeben, wo er bis zu seinem Tode sehr erfolgreich wirkte.
Seine Mutter Constanze war eine Tochter des Humboldts, dem Siegerhengst des Körjahrgangs 1944 in Ostpreußen. Er brachte nicht nur über die väterliche Linie Jagdheld-Perfectionist xx bestes Leistungsblut mit, war doch seine Großmutter Beate v. Blanc Bec xx Siegerin der zwei schwersten Hindernisrennen des Kontinents – der Pardubitzer Steeplechase und des v. d. Goltz-Querfeldeinrennens in Trakehnen. Vespuccis mütterliche Familie hat ihren Ursprung in der 1934 in Puspern – nahe Trakehnen – geborenen Rappstute Vekordia v. Carneval, die vor dem Treckwagen den rettenden Westen erreichte. Hier wurde sie mit dem mächtigen Fuchshengst Häscher v. Schwindler angepaart. Sie brachte die braune Tochter Vestalin, die später mit Tatar v. Pythagoras Vespuccis Mutter Vespa zeugte. Betrachtet man das Pedigree der Vespa, so sind einige Punkte bemerkenswert. Zunächst der Großvater Tartars: Gauss v. Tempelhüter. Er ist über seine Mutter Herdmütterchen der Halbbruder eines der besten Dressurpferde vor dem II. Weltkrieg: Herder v. Pilger. Sein Besitzer und Reiter Oberst Felix Bürkner sagte über ihn, er wäre das beste Pferd, das er jemals geritten habe. Ein weiterer auffälliger Punkt des Pedigrees: Die Inzucht auf den mächtigen Graditzer Rappen Astor v. Wolkenflug. Das ist deshalb erwähnenswert, weil auch eines der erfolgreichsten Dressurpferde der Nachkriegszeit, nämlich Otto Lörkes Fanal v. Hausfreund eine Inzucht auf Wolkenflug aufweist. Da verwundert es dann nicht, dass ein weiteres erfolgreiches Dressurpferd nach dem Krieg Astor in seinem Pedigree führt: Thyra v. Trebonius xx u. d. Panela v. Carneval (v. Astor). Diese Stute – geritten von Willi Schuldtheis und Rosemarie Springer – war unter anderem dreimal Siegerin des Dressurderbys in Hamburg. Ebenfalls von Wolkenflug war der zweimalige Pardubitz-Sieger Remus, dessen Mutter außerdem eine Enkelin des Wolkenflug-Vaters Ramzes xx war. Dies alles ist kein Zufall, sondern gezielte Zuchtplanung. Im Hauptbeschälerbuch von Trakehnen finden wir Beurteilungen über Astor.
So bescheinigte ihm der Landstallmeister Siegfried Graf von Lehndorff: „Stark, besonders in den Beinen, wenig Karpfenrücken, könnte etwas mehr Rippenwölbung haben, sehr gute Schulter. Auffallend scharfe Sprunggelenke, Gang regelmäßig und schwungvoll.“ Landstallmeister Dr. Martin Heling urteilte ähnlich: „Sehr starker, großrahmiger, bedeutender Rappe, der durch den reichlich großen Kopf für Ostpreußen etwas Fremdes hatte. Völlig korrektes, erstklassiges Fundament mit ausgezeichneten Gelenken. Gang gerade mit ausreichendem Schwung.“ Aus unbekannter Feder stammt folgende Beschreibung: „Erfolgreicher Hauptbeschäler und sicherer Vererber. Trotz seiner gewissen Spätreife gab er seinen Kindern viel Tiefe mit, manche hatten etwas wenig Trabaktion, viele erbten auch seinen großen Kopf. Nachkommen, die Schimmel oder Füchse waren, waren von besonderer Härte und gutem Temperament.“
Nach dem Krieg wurde mit großem Erfolg in der polnischen Pferdezucht der Astor-Sohn Polarstern eingesetzt, der seinem Vater sehr ähnlich sah. Oberlandstallmeister Gustav Rau schätzte den züchterischen Wet dieses Rappen sehr hoch ein und nutzte ihn zeitweise im Heeresgestüt Schönböken/Holstein.